Zwei Familien erinnern sich an ihre Ost-West-Annäherung
VOLKSDORF Die Annäherung zwischen Ost und West haben zwei Familien 1989 auf ganz besondere Weise gefeiert. Die Moslers aus Volksdorf haben den Köhlers aus Graal-Müritz ein Wochenende lang ihre Heimat gezeigt. Drei unvergessliche Tage für alle, die gerade jetzt, 30 Jahre nach der Wiedervereinigung, an Weihnachten für viel Gesprächsstoff sorgen.
Von Susanne Holz
Es gibt viele Orte, die man besuchen könnte, wenn die Mauer gefallen ist: das Brandenburger Tor, den Eifelturm in Paris, den Viktualienmarkt in München oder den Big Ben in London. Familie Köhler aus dem mecklenburgischen Graal-Müritz landete kurz nach dem Mauerfall 1989 im Hamburger Stadtteil Volksdorf und erinnert sich noch heute gern an das erste Fleckchen der Bundesrepublik Deutschland, das sie kennenlernte.
Wohin das Schicksal sie führen würde, ahnte keiner der Köhlers, als sie damals vor 31 Jahren in Rostock in den Zug stiegen und
in ein Land aufbrachen, das alle nur aus dem heimlich geschauten West-Fernsehen kannten. Mutig hatte die fünfköpfige Familie Stullen und Getränke eingepackt und war einfach aufgebrochen – ohne Hotelbuchung und Notfallplan rüber über die Grenze, die plötzlich offen war.
In der Bahnhofsmission am Hamburger Hauptbahnhof bekam der fremde Westen dann plötzlich ein Gesicht und einen Namen: Mosler! Das Ehepaar aus Volksdorf hatte dort seine Telefonnummer hinterlegt und angeboten, Menschen aus Ostdeutschland zu beherbergen. Doch es war so viel mehr als das. „Die Moslers haben uns aufgenommen wie Freunde. Es war ein unbeschreiblich schönes Wochenende, an dem wir uns sehr willkommen gefühlt haben“, sagt Familienvater Jürgen Köhler und ist noch heute, Jahrzehnte später, von der Gastfreundschaft gerührt. Weil eine der beiden Töchter der Moslers ein Schuljahr im Ausland verbrachte, nächtigten die Köhlers im Gäste- und im Kinderzimmer, nahmen morgens ganz selbstverständlich am Frühstückstisch von Susanne und Karl Mosler Platz.
Und wie leben Sie so?
„Wir hatten gern ein volles Haus und waren vor allem neugierig auf die Menschen aus Ostdeutschland. Als wir das erste Mal die offene Grenze passierten, war das auch für uns ein sehr berührender Moment. Wir wollten mehr über die Menschen und das Land erfahren“, erinnert sich Karl Mosler, der mittlerweile mit seiner Frau in der Nähe von Köln lebt.
Gesprächsstoff gab es genug, stundenlang saß man beieinander und erzählte sich, wie das Leben so ist, im Westen und im Osten. Susanne Mosler interessierte sich besonders für das Bildungssystem der DDR, auch ihr Mann, ein Mathematikprofessor, hörte bei diesem Thema gespannt zu.
Dass sich die Köhlers aus Graal-Müritz noch so genau an das Wochenende bei ihm und seiner Frau in Volksdorf erinnern, freut die beiden sehr.
Ein ganzes Wochenende zeigten sie den Gästen damals ihre Stadt. Während sich Michael Köhler – damals noch ein Teenager – ein Gang über den Fischmarkt eingeprägt hat, bleibt seiner Mutter ein Ausflug in die Spielwarenabteilung von Karstadt in der Mönckebergsraße unvergessen. „Ich habe die ganze Zeit immer nur gedacht: Das ist doch verrückt! Wer kauft das alles?“, sagt Brigitte Köhler. „Es war, als hätte jemand das Licht angeknipst. Es war plötzlich alles farbig, das kannten wir so nicht“, erzählt sie. Ihre Tochter, die an diesem ganz besonderen Wochenende Geburtstag hatte, kaufte sich vom „Begrüßungsgeld“ eine Jeans, eine weiße Bluse und eine Kette. Und ihr Vater kann sich ein Schmunzeln nicht verkneifen, wenn er an den ersten Eindruck vom Westen denkt. „Wir nahmen am Hauptbahnhof den falschen Ausgang und landeten auf St. Georg. Plötzlich wurde ich von vielen Damen in kurzen Röcken angeprochen.“
Wenn er und seine Familie Weihnachten zusammensitzen, werden sie sicher über Volksdorf reden. Doch eines ist gestern wie heute klar: Ihre Heimat heißt Graal-Müritz. „Als wir damals nach Hamburg reisten, haben wir uns gedacht: Den schauen wir uns mal an, den Westen, und dann fahren wir wieder nach Hause.“
Last modified: 30. Dezember 2020